Der Verfasser einer finnischen Musikgeschichte steht vor einem Paradoxon. Auf der einen Seite ist es offenkundig, daß es heute einer solchen Geschichte weder an Material noch an Substanz fehlt – im Gegensatz zu der Zeit von Martin Wegelius, dem ersten finnischen Musikhistoriker, der 1891 auf der letzten Seite seines Buches Hufvuddragen av den västerländska musikens historia feststellte, daß “in Finnland eine Musikgeschichte erst gemacht werden muß, ehe man sie schreiben kann”.[1] Auf der anderen Seite aber ist das Konzept einer nationalen Musikgeschichte suspekt geworden. In Finnland hätte man sie um die Jahrhundertwende schreiben sollen, als der Nationalismus noch in voller Blüte stand und als man in dem Glauben der Herderschen Romantik lebte, daß sich in der Kunst die Volksseele als die ursprünglichste treibende Kraft der Geschichte widerspiegelt; und man hätte sie zweifellos auch geschrieben, wenn nur die Musik da gewesen wäre.
Ähnlich war die Lage in Ungarn, als Bartók und Kodály im Jahre 1905 in entlegenen Dörfern ein reiches Gut von Melodien fanden, das Bartók im Gegensatz zur volkstümlichen Kunstmusik (oder “Volksmusik der Stadt”) “Bauernmusik” nannte. Diese Musik änderte grundsätzlich die Auffassung über das, was in der Musik als ungarisch galt; und Kodály begründete die nationale Bedeutung der Bauernmusik um 1930 damit, daß so wenig an alter ungarischer Musik schriftlich überliefert sei. Die Volksmusik sei zu einer ungarischen Konzeption der Musikgeschichte “unentbehrlich”, und vom künstlerischen Standpunkt her bedeute sie den Ungarn “mehr als jenen Völkern, die schon seit Jahrhunderten einen selbständigen Musikstil entwickelt haben”. In Ungarn müsse man in den Dörfern das suchen, was ein deutscher Musiker bei Bach und Beethoven finde, “das organische Leben einer nationalen Tradition”.[2]
In Kodálys Worten aus den 1930er Jahren spricht noch der Geist des Nationalismus, von dem sich Bartók eher losgelöst hatte, als er anfing, die musikalische Überlieferung der Rumänen, Slowaken, Araber und Türken zu sammeln und zu erforschen und die Volksmusik dieser Völker in seiner eigenen Musik als Material zu benutzen. Für Kodály bedeutete die Volksmusik einen Ersatz der nationalen Klassik, die den Ungarn – anders als den Deutschen – fehlte. In seinem Argument ist auch der Gedanke enthalten (obwohl er unausgesprochen bleibt), daß Haydn nicht zur Musikgeschichte Ungarns zähle, obwohl er lange auf ungarischem Boden im Dienste eines ungarischen Feudalherren gewirkt hatte. Für ihn war Haydn, dessen Musik keine spezifisch ungarischen Züge aufweist, zweifellos eher Repräsentant der Wiener Hof- und Adelskultur, die musikalisch durch deutsche und italienische Traditionen geprägt war.
Zu entscheiden, was zu einer nationalen Musikgeschichte zu zählen ist, scheint problematisch zu sein. Die Tendenz, eine nationale Klassik, die es nicht gibt, durch Volksmusik zu ersetzen, ist typisch für kleine Länder, die relativ wenig zur europäischen Musikentwicklung beigetragen haben. Carl Dahlhaus hat darauf hingewiesen, daß das nationale Modell als Ausgangspunkt der Musikgeschichtsschreibung in großen Musikländern ebenso untauglich ist. Zwar gibt es Werke wie die “Geschichte der deutschen Musik” oder “Musikgeschichte Österreichs”, aber sie scheinen nicht den Erwartungen zu entsprechen, die ihre Titel erwecken. Obwohl der Sprachgebrauch der Verfasser nationale Betonungen aufweist, besteht der eigentliche Inhalt der Musikgeschichtsschreibung jedoch aus Gattungen, Formen und Stilperioden, in denen die nationalen Unterschiede nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die musikalischen Phänomene, die mit Grund als national bezeichnet werden können, machen einen geringeren Teil der musikalischen Wirklichkeit aus als die örtlichen, lokalen und supranationalen Züge. Die Aufmerksamkeit in erster Linie auf sie zu richten, würde das Bild der historischen Wirklichkeit verzerren. Laut Dahlhaus enthält der Begriff der “deutschen Musik” nichts, was die Entwicklung von Schütz zu Bach oder von Haydn zu Beethoven begreiflich machen würde. Die ethnische Substanz als einen maßgebenden Faktor zu erklären, der seinen Ausdruck in der Schreibweise der Komponisten findet, wäre eine mythologische Konstruktion, die nicht auf Tatsachen beruht.[3]
Hinzu kommt, daß es in vielen Fällen schwer fällt, sich des Gegenstandes oder des territorialen Umfangs einer nationalen Musikgeschichte zu vergewissern. Wer eine Musikgeschichte Österreichs schreiben will, muß die Tatsache berücksichtigen, daß sich der Begriff Österreich im Laufe der Zeit ständig geändert hat. “Er kann”, wie Gottfried Scholz bemerkte, “territorial und dynastisch, kulturgeographisch und staatsrechtlich, ethnographisch und national verstanden werden und seine Begrenzung wird in jedem Fall verschieden sejn.”[4] Dabei steht von vornherein nicht fest, wer als österreichischer Komponist gelten kann. Staatsrechtlich war z.B. Mozart – als Untertan des souveränen Fürsterzbistums Salzburg – in Wien ein Fremder, also kein Österreicher. Trotzdem würde es kaum jemandem einfallen, ihn nicht zur österreichischen Musikgeschichte zu zählen. Nach seinem eigenen Verständnis war er “ein ehrlicher Teutscher”, der Wien als Hauptstadt des deutschen Vaterlandes bezeichnete.[5] Offenkundig war das kulturgeographische Kriterium für ihn entscheidender als das staatsrechtliche, und als übergeordnetes Prinzip mag hier auch schon Idee der “Sprachnation” zur Geltung kommen.
Die nationale Klassik
Die musikalische Klassik wurde um 1800, wie Dahlhaus bemerkt hat, als eine deutsche Klassik verstanden, obwohl zu ihr auch italienische und französische Komponisten gezählt wurden und obwohl sie selbst eine Synthese aus den nationalen Stilen des 18. Jahrhunderts darstellte.[6] Zu dieser Klassik konnten sich sowohl die Deutschen als auch die Österreicher bekennen. Sie gehörten beide zu derselben “Kulturnation”, deren Einheit in der gemeinsamen Sprache und einer ähnlichen Lebensform, gefördert durch geographische Nähe und rege Verbindungen, begründet war.
In Finnland gab es zur Zeit Wegelius’ noch keine nationale Klassik von internationaler Geltung. Der Dichter und Historiker Topelius äußerte 1852 die Meinung, daß Bernhard Henrik Crusell, ein Komponist finnischer Herkunft, eigentlich nicht zur nationalen Musik Finnlands zähle, weil er “in Schweden gedichtet” habe.[7] Nach dieser Auffassung ist die Herkunft des Komponisten – seine ethnischen Wurzeln – ein an Bedeutung geringerer Faktor als die kulturelle Umgebung, in der er komponiert und an deren Musikleben er sich beteiligt. Der Standpunkt von Topelius ist begründet, wenn man die finnische Musikgeschichte aus der Sicht des damaligen Finnland-Begriffs und der damaligen staatlichen Grenzen betrachtet. Seit 1809 war Finnland keine schwedische Provinz mehr, und ein Finne, der in Stockholm lebte, lebte im Ausland. Mit derselben Begründung konnte Topelius den Komponisten Fredrik Pacius trotz seiner deutschen Herkunft – er war 1809 in Hamburg geboren – für einen finnischen Komponisten halten. In anderen Fällen aber kann derselbe Gedankengang zu Schwierigkeiten führen. Mit den Prämissen von Topelius könnte man auch behaupten, daß Haydn während der Jahre, die er in Esterháza verbrachte, kein deutscher oder österreichischer, sondern ein ungarischer Komponist gewesen sei und daß Liszt kein ungarischer Komponist sei und Chopin kein polnischer. Und von welcher Nationalität war Händel, als er in London lebte und italienische Musik auf englische Texte komponierte? War Strawinsky eine Zeitlang ein Schweizer Komponist und wurde aus ihm in Kalifornien ein amerikanischer?
Denkt man an Händel und Haydn, so muß man noch feststellen, daß der Begriff des nationalen Stils im 18. Jahrhundert grundsätzlich ein anderer war als im 19. Der französische oder der italienische Stil war eine Art, eine Schreibweise, die ein Komponist ungeachtet seiner Herkunft wählen und sich zu eigen machen konnte. Als Opernkomponist war auch Mozart ein Italiener, um mit dem Singspiel wieder ein Deutscher zu werden. Es dürfte also klar sein, daß sich ein nationaler Stil im internationalen Gebrauch schlecht zum Ausgangspunkt einer nationalen Musikgeschichte eignet, die ohne ethnische und politische Kriterien schwerlich auskommt.[8] Die Herkunft des Komponisten, sein sozialer Hintergrund, seine Wirkungsstätte und die Schreibweise bilden ein komplexes Netz von Variablen, und oft fällt es schwer, einen Komponisten eindeutig zur nationalen Musik eines bestimmten Landes oder Volkes zu zählen. Vielmehr kann er gleichzeitig mehreren verschiedenen Kultursystemen zugeordnet werden.
Wer ist ein finnischer Komponist?
Ein belehrendes Beispiel aus der finnischen Musikgeschichte ist Erik Tulindberg, ein komponierender Musikliebhaber aus dem späten 18. Jahrhundert, der heute als der erste finnische Komponist von Kunstmusik betrachtet wird. Im Gegensatz zu Bernhard Henrik Crusell, aus dem ein professioneller Musiker wurde, beschritt Tulindberg eine bürgerliche Laufbahn und zog im Jahre 1784 von Turku, der ältesten Stadt Finnlands, wo er sein Universitätsexamen absolviert hatte, nach Oulu (Uleåborg) um, einer Kleinstadt unweit vom Polarzirkel, wo die Voraussetzungen für die Ausübung von Musik im Vergleich zu Turku (um von Stockholm gar nicht zu reden) gering waren. Sein Verschwinden in der Peripherie des Landes hatte zur Folge, daß seine Werke schnell in Vergessenheit gerieten, soweit sie in weiteren Kreisen überhaupt einmal bekannt gewesen waren. In seiner Übersicht über die finnische Musik von 1852 erwähnt Topelius seinen Namen nicht.
Die Stadt Oulu war Ende des 18. Jahrhunderts zweifellos eine weit provinziellere Stadt als Turku, wo das Leben durch gute Verkehrsverbindungen mit Stockholm ständig bereichert wurde und wo man selbst auf dem Gebiet der Musik überraschend gut auf dem laufenden war. Oulu lag buchstäblich hinter dem Mond, wie aus dem Reisebericht Giuseppe Acerbis, eines italienischen Gebildeten und Musikliebhabers, der im Jahre 1799 die Stadt besuchte und mit Tulindberg Quartett spielte, zu entnehmen ist. “Ein Quartett zu Ulaborg”, schreibt Acerbi, “war aber ein Phänomen, das so ganz außer dem gewöhnlichen Lauf der Dinge lag, als die allerseltsamste Naturerscheinung. Es waren nicht vier Personen in der ganzen Stadt, die je in ihrem Leben vierstimmige Musik gehört hatten, und wahrscheinlich war seit der Erbauung der Stadt bis zu unserer Ankunft daselbst nie ein Quartett in ihren Ringmauern aufgeführt worden.”[9]
Unter diesen Umständen war Crusells Entscheidung, nach Stockholm zu ziehen, aus der Sicht der Musiker-Karriere, die ihm vorschwebte, die einzig denkbare, denn für eine anspruchsvolle Ausübung des Musikerberufs gab es im Königreich Schweden des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts keine Voraussetzungen außer der Stockholmer Hofkapelle. Selbst in Turku, wo doch 1789 eine Musikalische Gesellschaft gegründet wurde, war ein musikalisch begabter Mensch zum Dilettanten auf dem Gebiet der Musik verurteilt.
Die Schweden zählen heute Crusell – nicht ohne Grund – zu den ihren, und sie könnten ihren Standpunkt mit der Auffassung von Topelius begründen. Von Tulindberg aber steht in der schwedischen Musikgeschichtsschreibung bisher kein Wort, obwohl er in einer schwedischen Provinz geboren war und komponierte. Die Muttersprache scheint auch kein genügendes Kriterium zu sein, denn Tulindberg war nicht weniger schwedischsprachig als Crusell; und darauf, daß Tulindberg zu seiner Zeit in den musikalischen Kreisen Stockholms unbekannt gewesen wäre, kann man sich auch nicht berufen, da er 1799 zum Mitglied der Königlichen Musikalischen Akademie ernannt wurde. Was als schwedische Musik gilt, wurde bisher offenkundig auf Grund der heute gültigen staatlichen Grenzen entschieden. Die finnische Musikgeschichtsschreibung hat sich dagegen nicht gescheut, Crusell auf Grund seiner Herkunft als einen finnischen Komponisten zu betrachten, obwohl er das Land im Alter von 16 Jahren verließ und es zehn Jahre später zum letzten Mal besuchte.
Musikalische Gründe sind auch nicht ausschlaggebend für die Entscheidung, ob Tulindberg und Crusell zu der nationalen Musikgeschichte Finnlands oder Schwedens zu zählen sind, denn es wäre zwecklos, in der Musik dieser Komponisten eine ethnische Substanz, Ausdruck der finnischen oder der schwedischen Volksseele zu suchen. Musikalisch betrachtet waren sie ebenso deutsch wie Haydn und Weber. Wichtiger als die nationale Gebundenheit war bei ihnen die übernationale stilistische Orientierung. Dennoch gehören sie aber auch nicht zur deutschen Musikgeschichte.
Es scheint also, daß der nach dem Frieden von Hamina im Jahre 1809 entstandene Finnland-Begriff, zu dessen Formung außer der Umwälzung der staatlichen Verhältnisse auch die geistige Strömung des nationalen Erwachens beitrug, für die Musikgeschichtsschreibung früherer Zeiten nicht brauchbar ist. Topelius war der Meinung, daß von einer nationalen Geschichte Finnlands vor 1809 nicht die Rede sein kann; die frühere Geschichte der östlichen Provinzen Schwedens ist nach seiner Bewertung lediglich Ländergeschichte, die höchstens den Wert einer Chronik hat.[10] Es fällt nicht schwer, die Auffassung von Topelius immer noch zu teilen, und der Rückschluß daraus ist offenkundig, jedoch ein anderer als der von Topelius: die Musikgeschichte der östlichen Provinzen Schwedens, die heute Finnland heißen, muß bis 1809 im Zusammenhang und als ein Teil der schwedischen Musikgeschichte betrachtet werden. Zu beachten ist weiter, daß die kulturellen Beziehungen mit Schweden infolge der Trennung nicht abrupt abgebrochen wurden. Zur Grundeinheit der Geschichtsschreibung wird demzufolge statt des topelianischen Nationalitätsbegriffs der multinationale Staat. In dieser Betrachtung bleibt noch die Frage offen, wie diejenigen Teile des finnischen Volksstammes zu berücksichtigen sind, die an der Peripherie des schwedischen Reichs oder gar außerhalb seiner Grenzen lebten? Will man sie in die Darstellung der finnischen Musikgeschichte miteinbeziehen, bleibt wohl nichts anderes übrig als die von Topelius erwähnte chronikale Ländergeschichte, d.h. eine Schilderung von musikalischen Milieus verschiedener Art und verschiedener kulturellen Verknüpfungen. Außer vom “Stockholmer Finnland” muß man dann auch vom “Viborger Finnland” oder “St. Petersburger Finnland” als einer mehr oder weniger selbständigen kulturellen Einheit sprechen, wo der baltische und deutsche Einfluß des bürgerlichen Musiklebens neben der byzantinischen Musiktradition der östlichen Kirche sichtbar ist und auf dessen Hinterland noch die Überlieferung des heidnischen Runen-Gesanges weiterwirkt.
Wenn man die nationale Musikgeschichte Finnlands vor 1809 als einen Bestandteil der schwedischen betrachtet, begegnen uns Probleme anderer Art. Spricht man von Crusell, müßte man auch von Roman, Bellman und anderen schwedischen Komponisten des 18. Jahrhunderts reden, von der geheimen Gesellschaft Utile Dulci (als deren Pendant in Turku später die Aurora-Gesellschaft gegründet wurde), von der Königlichen Oper und der Musikalischen Akademie. Dem Besuch Gustafs III. in Turku im Jahre 1775 und der Musik, die in diesem Zusammenhang aufgeführt wurde (bisher weit und breit in der finnischen Musikgeschichte geschildert), kann kaum mehr Bedeutung zugemessen werden als der königlichen Hofmusik in Stockholm im allgemeinen. Der provinzielle Gesichtswinkel kann zwar einigermaßen betont werden, wenn über gesellschaftliche Formen der Musikausübung die Rede ist, aber bei der Schilderung des Gechmacks und der Musikstile muß das zentrale Gebiet des Reiches, zu dem das südwestliche Finnland gehörte, als ein Ganzes betrachtet werden. Diese Komponisten, Institutionen und Ereignisse in einer Musikgeschichte Finnlands zu behandeln, wäre aber andererseits dem schwedischen Nationalismus gegenüber eine Zumutung.
Nationale Musik
Das nationale Konzept tritt in der finnischen Musikgeschichte erst Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Für Zeitgenossen und auch spätere Generationen war Fredrik Pacius (1809–1891) der “Vater der finnischen Musik”, auf dessen Wirken das nationale Erwachen auf dem Gebiet der Musik zurückzuführen ist. Seine Kompositionen (wie z. B. Maamme, Unser Land) riefen Gefühle der Solidarität hervor und – wie Karl Flodin, ein einflußreicher Musikkritiker, um die Jahrhundertwende bemerkte – brachten die patriotischen Gefühle des finnischen Volkes und “seinen Glauben an eine – trotz allem – lichte und glückliche Zukunft” zum Ausdruck.[11] Die Loyalität, die die Finnen früher dem Monarchen, der Kirche oder den Fürsten gegenüber gehegt hatten, wurde jetzt Volk und Vaterland entgegengebracht. In seiner Übersicht über die finnische Musik, die Topelius im Jahre 1852 als eine Art Vorwort zu Pacius’ Oper Kung Karls jakt (Die Jagd des Königs Karl) veröffentlichte, fand er wenig Nennenswertes. Crusell hatte – wie gesagt – “in Schweden gedichtet” (und konnte eigentlich nicht zur Musikgeschichte Finnlands gezählt werden), der “milde, anspruchslose” Fredrik Ehrström hatte einige einfache Lieder zusammengebastelt, und diverse Dilettanten hatten “Walzer und Anglaisen” geschrieben – und das war es. Nach Topelius’ Meinung dürfte die finnische Musikgeschichte in der Zukunft auf die Zeit vor Pacius und die Zeit nach Pacius aufgeteilt werden.
Unter den Umständen dieser Zeit war Pacius ein bedeutender Komponist schon deshalb, weil er kein Dilettant war wie die meisten Persönlichkeiten des einheimischen Musiklebens. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, als er nach Finnland kam, genügte es dem Musiker in Mitteleuropa nicht mehr ein “vollkommener Kapellmeister” zu sein; die Romantik hatte von dem wahren Künstler ein anderes Idealbild, das das Poetische gegenüber dem Handwerklichen betonte, geschaffen. In Finnland aber war Pacius ein Meister, dessen professionelles Können unübertroffen war, und seine deutsche Herkunft hinderte ihn nicht, eine nationale Koryphäe zu werden. Der Fall Pacius weist darauf hin, daß die nationalen Symbole nicht unbedingt mit der ethnischen Herkunft oder der nationalen Folklore verbunden sind. Das Lied Maamme, das zur finnischen Nationalhymne wurde, beruht zwar auf einem Voiklied, aber auf einem deutschen, wie Heikki Kiemetti, ein bekannter Chordirigent und Musikkritiker, ein halbes Jahrhundert später – nicht ohne Ranküne – bemerkte. Durch seine Lieder und andere Kompositionen verschaffte Pacius den Finnen eine musikalische Identität, die trotz fremder Untertöne als eine ursprünglich finnische empfunden wurde. Das war der entscheidende Grund für seinen unvergleichbaren Einfluß auf das finnische Musikleben im 19. Jahrhundert, nicht sein professionelles Können, das lediglich die Voraussetzung für die Entfaltung des nationalen Geistes in seiner Musik war.
Pacius war also der erste Repräsentant der nationalen Klassik in der finnischen Musik. Er verschaffte sich diese Position dadurch, daß er sich mit dem finnischen Nationalismus identifizierte, ohne jedoch eine Beziehung zu der finnischen Folklore zu haben. Das war möglich, weil der Stil, den er repräsentierte, den Gebildeten unter den Finnen viel geläufiger war als die traditionelle Musik der ostfinnischen Bauern, die eher als eine exotische Kultur empfunden wurde. Die nationale Bedeutung eines musikalischen Phänomens beruht demnach nicht so sehr auf der Substanz, sondern ist eher Folge eines Rezeptionsvorgangs, der ihm nationale Bedeutung beimißt. Unter Umständen kann fast jedes Objekt, ungeachtet seiner Beschaffenheit, Gegenstand nationaler Identifizierung werden; der entscheidende Faktor ist das Verständnis der Rezipienten.
In West- und Südeuropa lebte die Kunstmusik schon immer in enger Beziehung mit der Volksmusik und wurde von ihrer natürlichen Frische bereichert; aber vor dem 19. Jahrhundert war die Volksmusik kein nationales Phänomen, weil einerseits der Begriff der Nation nicht wie heute ausgeprägt war und andererseits andere Merkmale den Vorrang hatten. Man verwendete Volksmelodien in der komponierten Musik eventuell, um ein bestimmtes couleur local hervorzurufen, oder auch als Hinweis auf eine andere soziale Schicht.
Als Giuseppe Acerbi finnische Runenmelodien, auf die Tulindberg ihn aufmerksam gemacht hatte, in seinen Klarinettenquartetten verwendete, war seine Absicht nicht, die nationalen Gefühle seiner Zuhörer in Finnland zu erwecken oder zu reizen, sondern eher auf etwas Fremdes und Ungewohntes hinzuweisen und dieses Fremde im Rahmen eines geläufigen Stils darzustellen – ein Verfahren, das aus Mozarts türkischem Marsch oder Beethovens Razumowski-Quartetten (e-moll, op. 59 Nr. 2) bekannt ist; und daß es ein Italiener war, der Elemente der finnischen Volksmusik in die Kunstmusik einführte, legt deutlich an den Tag, daß zu dieser Zeit das Völkische mit dem Nationalen nichts zu tun hatte.
Mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts änderte sich das Verhältnis zur Volksmusik grundsätzlich. Während sie früher dem Lokalen zugehörte und der komponierten Musik höherer Kulturschichten nur gelegentlich als Quelle einer exotischen Färbung diente, wurde sie jetzt mit politischen Ideen verbunden und zum Symbol des Nationalen erhoben. Als Musterbeispiel einer nationalen Kunst galt in Finnland das Heldenepos Kalevala, das Elias Lönnrot, von der Ausbildung her ein Arzt, 1835 aus den in Karelien gesammelten Volksdichtungen zusammenstückte. Von seinem Beispiel angeregt, begann eine intensive, fast hektische Sammlertätigkeit, die bis zur Jahrhundertwende Zehntausende in der mündlichen Tradition überlieferte Volksmelodien ans Licht brachte. Die historische Existenz des Volksliedes, das bisher ein strukturelles Moment der Bauernkultur gewesen war und ihr kollektives Gedächtnis dargestellt hatte, beginnt mit seiner Rezeption durch die gebildete Klasse. Am Horizont der komponierten Musik erscheint “der finnische Ton”, der aus diesen exotischen Melodien herausgeholt wurde, in Sibelius’ Kullervo-Symphonie, die ihm sozusagen seine “zweite Existenz” verlieh.
Nationalismus im 20. Jahrhundert
Der Einfluß des Nationalismus in der finnischen Musik ist bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bemerkbar. Man könnte sogar behaupten, daß die meisten Züge, die man heute in der finnischen Musik als national empfindet, sich erst in diesem Jahrhundert entwickelt haben. Obwohl es nicht zu leugnen ist, daß Sibelius den Grundstein des “finnischen Tons” gelegt hat (wie Grieg das gegründet hat, was in der Musik als norwegisch gilt), scheint sich das Finnische in der finnischen Musik eher mit Komponisten wie Madetoja, Melartin, Kilpinen und Kaski zu verknüpfen. Dies beruht teils auf der Substanz ihrer Musik, teils aber auf der Tatsache, daß die Bedeutung dieser Komponisten national geblieben ist, während Sibelius eine Position auch in einem weiteren, supranationalen Kultursystem errungen hat. In diesem Kontext ist Sibelius ebenso wenig national wie Bruckner, Strauß oder Debussy, was nicht besagt, daß die Musik dieser Komponisten keine nationalen Züge aufweisen.
Je mehr wir uns unserer Zeit nähern, um so schwieriger wird es, die Welt der Musik in nationale Kategorien einzuordnen. In Finnland wie in den meisten anderen Ländern schwächt sich die Bedeutung des Nationalen mit der Zeit immer weiter ab. Es ist sogar möglich geworden, Volksmusik in einer Weise zu behandeln, die dem Verdacht eines nostalgischen Nationalismus nicht ausgesetzt werden kann. Dieses neue Verhältnis zur Volksmusik macht sich schon in den Werken Aarre Merikantos aus den 20er Jahren dieses Jahrhunderts bemerkbar, und Ende der 60er Jahre begegnet man ihm z. B. in Aulis Sallinens 3. Streichquartett, dem ein volkstümlicher Trauermarsch zugrunde liegt.
National in der heutigen Musikkultur sind in erster Linie die organisierten Formen des Musiklebens und ein bestimmtes Repertoire, das bevorzugt wird und von dem abweicht, was in den Nachbarländern praktiziert wird,[12] nicht so sehr die Musik selbst, die in dem “gemeinsamen europäischen Hause” immer ähnlicher wird. Unterschiede sind gewiß da; aber sie in erster Linie als nationale Unterschiede zu stilisieren, wäre sinnlos. Die Frage, ob das finnische Volk eine Musikgeschichte hat, kann also nur wie folgt beantwortet werden: als es eine Musikgeschichte haben konnte, hatte es sie nicht; und wenn es eine haben könnte, kann es sie nicht mehr haben.
Musiikki 1–4/1989, S. 111–121
[1]M. Wegelius, Hufvuddragen af den Västerländska Musikens Historia, Helsingfors 1891, S. 584.
[2]Z. Kodály, Die ungarische Volksmusik (1930). Zitiert nach B. Bartók, Vom Einfluß der Bauernmusik auf die Musik unserer Zeit, in: Béla Bartók. Weg und Werk, Schriften und Briefe, hrsg. von B. Szabolcsi, Budapest 1957, S. 168.
[3]C. Dahlhaus, Nationale und übernationale Musikgeschichtsschreibung, in: Europäische Musik zwischen Nationalismus und Exotik (Forum musicologicum Bd. 4), hrsg. von H. Oesch, W. Ant und M. Haas, Winterthur 1984, S. 12.
[4]C. Scholz, Wer gilt als österreichischer Komponist? Der “Osterreich”-Begriff im Wandel der Geschichte als Problem nationaler Musikgeschichtsschreibung, in: Kongressbericht Bayreuth 1981, hrsg. von Christoph Hellmut Mahling und Siegrid Wiesmann, Kassel 1984, S. 445-446.
[5]Scholz, a.a.O., S. 447.
[6]C. Dahlhaus, Die Idee des Nationalismus in der Musik, in: Zwischen Romantik und Moderne, München 1974, S. 76.
[7]Z. Topelius, Musiken i Finland och Kung Cans jagt (1852), in: Samlade skrifter 25, Stockholm 1905, S. 185.
[8]Dahlhaus, Nationale und übernationale Musikgeschichtsschreibung, S. 13‑14.
[9]C. Acerbi, Reise durch Schweden und Finnland bis an die äußersten Grenzen vonLappland in den Jahren 1798 und 1799, aus dem Englischen übersetzt von Ch.Weyland, Berlin 1803, S. 212. Original: Travels through Sweden, Finland and Lapland, to the North Cape in the Years 1798 and 1799, London 1802.
[10]Z. Topelius, Äger finska folket en historie? (1843), in: Samlade skrifter 23, Stockholm 1905, S. 39.
[11]K. Flodin, Die Entwicklung der Musik in Finnland, in: Die Musik II, Heft 11 (1903), S. 356.
[12]Vgl. oben F. Krummacher, Symposion “Das Nationale” ‑ Einleitende Bemerkungen, S. 87