Vom Einfluß der Volksmusik auf die Kunstmusik. Ein unbekannter Aufsatz von Sibelius aus dem Jahre 1896

Als Sibelius im Herbst 1896 sich um das Amt des Exercitiemeisters (Musikdirektors) an der Kaiserlichen Alexander-Universität zu Helsinki bewarb, hielt er eine Probevorlesung, in der er “einige Gesichtspunkte über die Volksmusik und deren Einfluß auf die Tonkunst” zu behandeln trachtete[1]. Die Wahl des Themas war nicht durch wissenschaftliches Interesse begründet; denn Sibelius war weder Musikhistoriker noch Volksliedforscher. Vielmehr nutzte er die Gelegenheit, um seine Position in einer aktuellen Streitfrage zu definieren. Die Idee des Nationalismus, die zweifellos herrschende Überzeugung in der finnischen Kultur des 19. Jahrhunderts, hatte die Aufmerksamkeit der Künstler und der Gebildeten auf die Volkspoesie gerichtet, in der man – nach dem Zusammenbruch der staatlichen und kulturellen Zusammengehörigkeit mit Schweden und mangels einer eigenen Klassik – die nationale Identität zu finden glaubte. Als Musterbeispiel einer nationalen Kunst galt das Heldenepos Kalevala, das Elias Lönnrot 1835 aus den in Karelien gesammelten Volksdichtungen zusammenstückte. Die ideengeschichtliche Situation war aber – insbesondere in der Musik – keineswegs einheitlich. Zum Beispiel zählte Martin Wegelius, der einflußreiche primus motor des finnischen Musiklebens und ehemaliger Lehrer von Sibelius, zu den Gegnern der nationalen Kunst, die er – offenkundig in Anlehnung an Wagners Oper und Drama – einer chauvinistischen Enge und der Verzerrung des rein Menschlichen verdächtigte[2]. Sibelius’ Entscheidung für sein Thema beruhte also darauf, daß es eine apologetische Funktion erfüllen sollte; es ging ihm nicht nur darum, seine Kompetenz zu belegen, sondern in erster Linie darum, den Weg zu rechtfertigen, den er in seiner Musik instinktiv verfolgte. Denn obwohl er in seinen Originalkompositionen keine authentischen Volksmelodien verwendete, ist es doch unbestreitbar, daß seine großen Werke aus der ersten Hälfte der 1890er Jahre – Kullervo, Satu und die Lemminkäinen-Suite – unter dem starken Einfluß von Kalevala und der mit dieser Volkspoesie verbundenen Musik entstanden sind.

Im ersten Abschnitt seines Manuskripts entwickelt Sibelius die These, daß das Material der abendländischen – “christlichen” – Musik “seine Hauptnahrung im Volkston gefunden” habe. Er versucht nachzuweisen, daß es nicht gerechtfertigt erscheint, die Volksmusik und die Kunstmusik als schroff getrennte Sphären zu betrachten, wobei die Volksmusik dem Lokalen und Nationalen des jeweiligen Landes angehört, während – wie es in dem Musikalischen Conversations-Lexikon von Hermann Mendel aus dem Jahre 1877 heißt – “die Kunstmusik sich nach bestimmten, ewigen Gesetzen entwickelt, die an keine nationale Eigenthümlichkeit gebunden sind” [3]. Als Beispiele aus der neueren Musikgeschichte nennt Sibelius Gluck, dessen Musik “sicherlich nie diesen Zug zur Wahrheit gehabt hätte, den wir bewundern, wenn er nicht in seiner Jugend, die er in Böhmen verbrachte, so tief von der dortigen Volksmusik durchdrungen gewesen wäre”; Haydn, “dessen Originalität völlig in seiner Liebe zum Volkstümlichen begründet liegt”; Schubert und Liszt, “auf welche die Zigeunermusik einen starken Einfluß ausgeübt hat”; Weber, von dem es heißt, daß es “einen ebenso nationalen Komponisten kaum je gegeben hat”; Wagner, “dessen Lebenswerk so sehr an das von Gluck erinnert”; “Chopin, Glinka und viele andere – bedeutende – Komponisten, die alle mehr oder weniger unter dem Einfluß des Volkstons ihres Landes standen” (S. 94).

Die Einsicht in den tiefgreifenden Einfluß der Volksmusik auf die Kunstmusik seit den frühesten Anfängen der europäischen Musikgeschichte war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs neu. Die von Mendel ausgesprochene Haltung mag – wie Kurt von Fischer vermutet – für weite deutsche Kreise aufschlußreich gewesen sein[4], aber andererseits hatten schon Musikhistoriker wie August W. Ambros und August F. W. Reissmann die Bedeutung der Volksmusik erkannt und durchaus positiv bewertet. “Es ist kein Zweifel”, heißt es bei Ambros, “daß das Herüberholen der frischen, lebendigen Volksweisen in die künstliche Contrapunktik auf diese außerordentlich wohlthätig eingewirkt hat. Es brachte ein volksthümliches Element von unverwüstlicher Lebenskraft, ein Stück Volksleben in diese Sätze, die außerdem nur gar zu leicht todte Rechenexempel geblieben wären. So sproßte selbst die Contrapunktik jener Zeit aus kräftigem Boden auf; sie war gleich der Dichtkunst, Malerei, Baukunst jener Zeiten wesentlich national, sie kam aus dem Volke und war für das Volk bestimmt”[5].

Ähnlich wie Ambros spielt Sibelius das unverdorbene Volkslied gegen den artifiziellen Kontrapunkt aus. “Die gelehrten Kontrapunktisten”, heißt es bei ihm, “hatten trotz ihrer Sicherheit ein schlechtes Gewissen. Sie merkten schon, wo die Frische und die Ursprünglichkeit lagen. Sie beschwichtigten ihr schlechtes Gewissen dadurch, daß sie diese verachteten Volkslieder als cantus firmus, d. h. als Grundlage in ihre Werke aufnahmen” (S. 90). Und ferner: “Außer von ihrem schlechten Gewissen ließen sich die gelehrten Herren von manchen anderen Zeichen der Zeit beunruhigen. In Italien hatten nämlich einige naive Künstlerseelen – obwohl geschickt im Kontrapunkt – allen unnötigen Ballast über Bord geworfen und ganz einfach aus dem Herzen innerliche, volkstümliche Töne gesungen” (S. 90).

Das Mißtrauen gegen den Kontrapunkt, das in diesen Sätzen mit einem Hauch von Ironie zum Ausdruck kommt, war aber bei Sibelius keine durch die Lektüre bestimmte Attitüde, sondern eine durch Erfahrung und Reflexion errungene künstlerische Überzeugung. Er preist die Frische und die Ursprünglichkeit, die so leicht zugrunde gehen, wenn der Musik im Überdruß Regeln und Vorschriften auferlegt werden: die Kunst stirbt aus, wenn sie ihren Kontakt mit dem Unmittelbaren, dem Einfachen und dem Unverdorbenen verliert. Zwar vertritt Sibelius nicht alleine die Auffassung, daß diese Eigenschaften in der Volksmusik zu finden seien; aber um die Jahrhundertwende war auch die Meinung weit verbreitet, daß die Verwendung von Volksliedern in der Kunstmusik im Gegenteil als ein bedauerliches Zeichen mangelnder Originalität und nachlassender schöpferischer Kraft anzusehen sei. Gegen diese Haltung sprach sich Bartók – nicht ohne Groll – noch vier Jahrzehnte später aus[6].

Die Volkslieder verschiedener Länder unterscheiden sich nach Sibelius in erster Linie durch das Tonsystem, dem sie folgen, und die Melodiebildung, die ihnen eigentümlich ist. Das älteste in der Volksmusik noch gebräuchliche Tonsystem, die Pentatonik, und das viel später entstandene diatonische System mit den sieben Modi sind dadurch gekennzeichnet, daß sie “der Tonika und der Dominante entbehren, auf denen – wie bekannt – unser heutiges Tonsystem beruht. Diese Tonalitätsauffassung schlummerte aber schon im altdeutschen Volkslied. Darin sehe ich den Grund dafür, daß die Deutschen auf dem Gebiet der Musik eine so große Rolle gespielt haben – besonders während der beiden letzten Jahrhunderte, als alle Musik, die geschaffen wurde, ihre Basis auf diesem nationalen tonalen System gehabt hat” (S. 88ff.).

Die Auffassung, daß der Ursprung der modernen Tonalität im altdeutschen Volkslied zu finden sei, geht offenkundig auf die Histoire de l’Harmonie au moyen age (1852) von François-Joseph Fétis und Charles-Edmond-Henri de Coussemaker zurück, auf die sich auch Hermann von Helmholtz stützt, wenn er meint, daß “die Volkslieder der germanischen und celtischen Stämme… ein festeres Gefühl für Tonalität im modernen Sinne verriethen, als die der südlichen Volker”[7]. Daß “die scheinbaren Akkordbrechungen im alten Liede … natürlich nicht wirklich von akkordlichem Denken” ausgehen, sondern “Nachahmungen der Naturtöne der Blasinstrumente” sind, wie Heinrich Rietsch später erkannte[8], wäre Sibelius eine fremde, mit seiner Geschichtsauffassung unvereinbare Idee gewesen. Denn mit vielen Zeitgenossen teilte er den Glauben an die Tonalität als eine Naturnotwendigkeit, eine Urkraft, die in der Natur beschlossen lag, aber sich erst allmählich aus dem Banne eines artifiziellen musikalischen Denkens befreien konnte.

Dem Bild, das er von der Entwicklung der Tonalität in Deutschland malt – einer Tonalität, deren Gegenspieler die Kirchentonarten und der Kontrapunkt waren – mangelt es nicht am Pittoresken. “In Deutschland war man während des ganzen Mittelalters mißmutig. Man schrieb in seiner Kammer anständig und hübsch artig den Kontrapunkt, aber in der Muße genoß man – im Freien – heimlich in vollen Zügen die Volksmusik. – Einige ehrliche deutsche Komponisten konnten in ihrer Einfachheit sich nicht vor dem Gedanken wehren, daß sie in ihrer Musik logen – insbesondere, als mit der Entwicklung der Harmonie die Begriffe Tonika und Dominante – diese dem deutschen Musiker insgeheim so lieben Freunde – immer mehr den Kopf hoben. – In Deutschland wurde auch der Kampf gegen die alten Kirchentonarten angefangen. 200 Jahre dauerte dieser Krieg, bis Johann Sebastian Bach, der größte Komponist, der je gelebt hat, mit eiserner Hand der Tonalität den Sieg verschaffte. Bach wußte aber ganz bestimmt, daß – als er diesen großen Kampf zum Abschluß gebracht hatte – der Sieg nicht sein eigener war, sondern – hauptsächlich – dem deutschen Volkslied zuzuschreiben ist” (S. 92).

Die Kirchentonarten hatten den Kampf schon verloren, ehe er eigentlich angefangen hatte. “Sie konnten sich nicht behaupten, weil sie konstruiert waren und eines festen Grundes entbehrten. Sie mußten einer Tonalität weichen, die ihren Grund in einem uralten Volkslied hatte” (S. 102). Daß für Sibelius die Kirchentonarten etwas Künstliches und Unnatürliches darstellten, scheint insofern widersprüchlich, als die modalen Züge in seiner Musik aus dieser Zeit schon eine zentrale Rolle spielten. In der Tat ist aber der Widerspruch von durchaus sekundärer Bedeutung. Denn sobald es möglich wurde, den modalen Skalen eine harmonische Deutung zu geben, die die tonale Gestaltungsweise bereicherte statt sie zu durchkreuzen, wurden sie auch in der Kunstmusik brauchbar.

Das größte Problem der zeitgenössischen Musik sieht Sibelius darin, daß “unsere moderne Tonalität wankt” (S. 102). Er vergleicht die Situation mit derjenigen der Zeit vor Bach, in der sich die Kirchentonarten in Auflösung befanden, warnt aber vor “übereilten Schlußfolgerungen”: “Aber man soll das Alte nicht niederreissen, wenn man es nicht durch etwas Neues ersetzen kann. Das gelingt nicht dadurch, daß man ein Tonsystem baut – es muß sich lebendig im Volkston befinden. – Ich gehe mit dieser Behauptung so weit, daß alle sog. interessanten Wendungen, Modulationen u. dgl. nur einen vorübergehenden Wert haben, wenn nicht die Keimzelle derselben sich in der Volksmusik befindet” (S. 104). Gegenstand der Polemik sind die Neudeutschen und ihre Nachfolger, vermutlich in erster Linie Strauss, dessen Musik einzelne Partien aufweist – wie Bartók erkannte –, “in denen die Tonalität bereits entschieden aufgehoben ist”[9].

Im zentralen Abschnitt des Manuskripts behandelt Sibelius das finnische Volkslied und dessen Harmonisierung. “Der allgemeinen Auffassung nach ist das finnische Volkslied oft wehmütigen und düsteren Charakters, monoton und an Frische mangelnd. Betrachten wir die Sache näher, stellen wir fest, daß der Grund für diese Monotonie nicht am Volkslied selbst liegt, sondern darin, daß man es harmonisch einseitig behandelt hat; d. h. daß man das Volkslied immer nach derselben Schablone harmonisiert hat” (S. 96). Diese Kritik an der üblichen Harmomsierungsmethode wird folgendermaßen präzisiert: “Die Grundform unserer ältesten finnischen Volkslieder folgt einem Tonsystem, das nach unseren Begriffen weder Tonika und Dominante noch einen Schlußton aufweist, sondern einfach fünf Töne – d e f g a –, zu denen sich noch zwei, h und c, hinzufügen, wenn die Melodie steigernden Charakter bekommt. – Diese Tonreihe – d e fg a h c – hat man in der Weise harmonisiert, daß man als deren Tonart d-moll aufgefaßt hat, dem sich eine Modulation in die Moll-Tonart der Dominante hinzufügt. Die auf jene Weise harmonisierten Melodien haben demnach eine düstere, choralmäßige Färbung bekommen … der ursprüngliche finnische helle, frische und abwechslungsreiche Volkston hat sich in einen kraftlosen und trüben gewandelt” (S. 99).

Im wesentlichen richtet sich diese Kritik gegen dieselben Phänomene, die Bartók in seinem Budapester Vortrag Vom Einfluß der Bauernmusik auf die Musik unserer Zeit aus dem Jahre 1931 – bezogen auf denselben Zeitpunkt – folgendermaßen beschrieb: “Hier muß ich … einen vor 30 bis 40 Jahren weit verbreiteten eigenartigen Irrtum erwähnen. Die überwiegende Mehrheit der geschulten Musiker glaubte damals, Volksweisen vertrugen nur ganz einfache Harmonien. Schlimmer war, daß sie unter ‘einfachen Harmonien’ Dreiklangsfolgen von Tonika, Dominante, eventuell noch Subdominante verstanden”[10]. Dieser Irrtum dürfte nach Bartók dadurch zu erklären sein, daß diese Musiker lediglich das neuere deutsche Volkslied des Typs O du lieber Augustin kannten, das tatsächlich keine komplexe Harmonisierung verträgt. Das fatale aber war, daß “die oben erwähnten Schablonenmusiker … diese des O du lieber Augustin würdige Theorie ohne weiteres auch den auf pentatonischer Leiterbildung beruhenden ungarischen Volksliedern aufzwingen” wollten, “wo doch in diesen keine Spur eines Hinweises auf den sog. ‘authentischen Schluß’ vorhanden ist”[11]. Auch dem dorischen Pentachord, das Sibelius “das finnische Tonsystem” nannte, fehlt seines Erachtens eine Finalis. “Die Runen schliessen nämlich bald auf diesem bald auf jenem Ton – ein deutliches Zeichen dafür, daß kein Grundton hier vorhanden ist” (S. 102). Das Argument ist dasselbe, mit dem Hermann von Helmholtz 1863 die tonale Indifferenz der pentatonischen Tonleiter begründet hatte[12].

Bartók entwickelte auf Grund seiner Beobachtungen eine Harmonisierungsmethode, die man als Kongruenzprinzip bezeichnen könnte, weil sie von der Gleichwertigkeit aller Skalentöne auch im Vertikalen ausging[13]. Sibelius’ Lösung des Problems ist weniger radikal, aber grundsätzlich bedeutet sie jedoch eine Bereicherung der harmonischen Ausdrucksmöglichkeiten. “Natürlich ist in vielen Fällen – wenn auch nicht immer – die Tonfolge d e f g a… als das obere Pentachord anzusehen, das auf einem ähnlichen unteren beruht und das demnach g als Ausgangspunkt haben würde. Die Grundlage von Melodien dieser Art ist also der Nonenakkord” (S. 98). Dieser Deutung des dorischen Pentachords folgt Sibelius, wie Erik Tawaststjerna gezeigt hat[14], in seiner Klavierbegleitung des finnischen Volksliedes Tuopa tyttö, kaunis tyttö kanteletta soittaa (aus den sechs Finnischen Volksliedern für Klavier, 1903).

Das Wesentliche bei der Bearbeitung des Volksliedes ist die Forderung, daß die Harmonisierung die Eigenart der Melodie nicht ersticken, sondern im Gegenteil hervorheben soll. “Wenn nun diese Melodien ihren Ursprung in einer längst vergangenen Zeit haben – einer Zeit, in der möglicherweise kein Begriff von Harmonie da war –, ist es leicht einzusehen, daß die Harmonisierung einen völlig anderen Charakter bekommt. Dann gilt es für den Musiker, sich die Grundstimmung der Volksweise klarzumachen, und dann – in Übereinstimmung mit derselben – die Harmonien hervorquellen zu lassen, die sozusagen das Klima schaffen, in dem man sich denken könnte, daß die Volksweise entstanden ist. Nur derjenige, der sich vollständig in den Volkston eingelebt hat, kann dabei instinktiv das Richtige treffen” (S. 96). Bei der Lektüre dieser Zeilen glaubt man die Stimme Bartóks zu hören, in dessen Formulierung sich dieses Prinzip vier Jahrzehnte später durchsetzte[15]. Und im Vorwort, das Kodály 1906 für die erste Veröffentlichung ungarischer Volkslieder für Gesang und Klavier schrieb, heißt es, daß es die Aufgabe der Klavierbegleitung sei, die Atmosphäre des Dorfes so echt wie möglich in Töne zu fassen[16].

Der Ursprung des Volkslieds liegt nach Sibelius in der Improvisation. “Seitdem hat die improvisierte Tonfolge durch unzählige Wiederholungen und durch die ihr folgenden Änderungen eine allgemeingültige Form bekommen. An dieser Umgestaltung hat sicherlich – oft genug – ein ganzes Volk gearbeitet. Darin muß man auch die Ursache für den Sachverhalt suchen, daß diese Volksmelodien oft auf eine so eigentümlich ergreifende Weise die Grundzüge des Charakters und des Gemütslebens eines Volkes widerspiegelt” (5. 86). Bei der Abfassung dieser Sätze erinnerte sich Sibelius offenkundig an Adolf Bernhard Marx (Die Lehre von der musikalischen Composition war der erste Traktat über die Musik, der ihm, dem Gymnasiasten, in die Hände fiel), der das Volkslied als “lebendigsten Volksausdruck” rühmte, “einer der unschätzbaren, jedes verwandte, jedes verstehende oder nur ahnende Gemüth tiefst ergreifenden Laute, in denen jedes Volk das Räthsel seines Daseins und Empfindens, sich selber vielleicht unbewußt, zu offenbaren hat”[17]. So sehr Marx aber das “Wahre und Ächte” am Volkslied feierte, so bedenklich war ihm andererseits die Verwendung von Volksweisen in der höheren Kunstmusik. Die Belehrung, die das Volkslied uns geben kann, “ist so wichtig und bildend, daß kein Jünger der Tonkunst versäumen sollte, sich mit dem Volkslied ernstlich zu beschäftigen, und zwar nicht um es nachzuahmen (das ist eitel), oder gelegentlich eine Volksweise in eignen Werken anzubringen (das ist gering), sondern um tiefer in die Seele seiner Kunst einzudringen”[18] Obwohl es Sibelius in seiner Vorlesung darum ging, zu zeigen, “welchen enormen Einfluß der Volkston auf die Kunstmusik ausgeübt hat”, hatte er in der geschichtlichen Situation, in der er redete, eine ähnliche Auffassung über die zukünftige Rolle der Volksmusik in der Tonkunst. Denn vor nichts anderem graute ihm so sehr wie vor der Gefahr, als ein Vertreter der gemütlichen “Heimatkunst” aufgefaßt zu werden. “Das Volkslied an sich hat keine direkte Bedeutung für die Kunstmusik. Seine große Bedeutung ist in seinen bildenden Eigenschaften zu suchen. Ein Tonkünstler, der ganz und gar von der Volksmusik seiner Heimat durchdrungen ist, muß natürlich eine ganz andere Einsicht in die Dinge gewinnen, ganz andere Sachen hervorheben, seine Befriedigung in der Kunst auf eine ganz andere Weise suchen als die übrigen. Darin liegt zum großen Teil seine Originalität. In seinem Werk soll er – besonders was die Ausdrucksmittel anbelangt – so viel wie möglich vom Lokalen loskommen. – Das gelingt ihm in dem Maße, in dem er als Persönlichkeit hervorragend ist” (S. 102).

 

[1] Der Text der Vorlesung (auf schwedisch) und eine finnische Übersetzung sind von I. Oramo herausgegeben worden in: Musiikki 10 (1980), S. 86-105. Die Seitenangaben der Zitate beziehen sich auf diese Edition.
[2] Daß Wagner für seine Musikdramen mythische Stoffe wählte, beruht nach Wegelius darauf, daß in den Mythen “das instinktiv träumende Gefühl an die Stelle der räsonierenden Vernunft, das rein Menschliche an die Stelle des geschichtlich Konventionellen getreten ist”; siehe Hufruddragen af den Vasterländska Musikens Historia, Helsingfors 1891, S. 569. Vgl. auch E. Tawaststjema, Sibelius, Vol. 1, London 1976, S. 36.
[3] Zitiert nach K. von Fischer, Zum Begriff national in Musikgeschichte und deutscher Musikhistoriographie, in: Zwischen den Grenzen. Zum Aspekt des Nationalen in der Neuen Musik, hrsg. von D. Rexroth, Mainz 1979, S. 11.
[4] Ebda.
[5] Geschichte der Musik II, Breslau 1864, S. 286–287. Vgl. auch A. Reissmann, Allgemeine Geschichte der Musik II, München 1864, S. 110.
[6] Bartók schrieb 1931: “Erst kürzlich äußerte sich einer unserer namhaften Musiker wie folgt: ‘Der uneingestandene Beweggrund für das in aller Welt in so großem Ausmaß betriebene Sammeln von Volksliedern ist auf eine innere Bequemlichkeitsliebe zurückzuführen, auf die Sehnsucht, sich an dem noch unerschöpften Quell zu laben, das unfruchtbare Hirn neu zu beleben. Dieser Wunsch soll die innere Unfähigkeit verbergen und mit geisttötender Bequemlichkeit das wahre innere Ringen umgehen.’ – Diese bedauerliche Äußerung zeugt von einer völlig gen Anschauung. – Welche Vorstellung mögen wohl solche Menschen über die Sache haben? Sie scheinen zu glauben, der Komponist, der ein Freund des Volksliedes ist, setze sich eines Tages mit der Absicht, irgendetwas zu komponieren, an seinen Schreibtisch. Er zermartert sein Hirn, ohne daß ihm eine einzige Melodie einfällt. Da ermannt er sich, schlägt die nächstliegende Volksliedersammlung auf, entnimmt ihr ein, zwei Volksmelodien und – sogleich entsteht seine Symphonie ohne jegliche Geburtswehen. – Nein! So einfach ist die Sache nun doch nicht. Der verhängnisvolle Irrtum liegt darin, daß man dem Sujet, dem Thema eine viel zu große Wichtigkeit beimißt, und das ist ein ganz unrichtiger Standpunkt.” Siehe “Vom Einfluß der Bauernmusik auf die Musik unserer Zeit”, in: Béla Bartók. Weg und Werk, Schriften und Briefe, hrsg. von B. Szabolcsi, Budapest 1957, S. 165f.
[7] H. v. Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 31870, S. 389 und S. 383.
[8] H. Rietsch, Zum Unterschied der älteren und neueren deutschen Volksweisen, in: JbP für 1911, Leipzig 1912, S. 14f.
[9] B. Bartók, Das Problem der neuen Musik, in: Melos 1(1920), S. 107.
[10] In: Szabolcsi, op. cit., S. 162.
[11] Ebda.
[12] Op. cit., S. 398.
[13] Vgl. I. Oramo, Modaalinen symmetria. Tutkimus Bartókin kromatiikasta, Helsinki 1977, S. 32.
[14] Op. cit., S. 291.
[15] Bartók schrieb 1931: “Immer ist es aber sehr wichtig, daß das Musikgewand, in welches wir die Melodie kleiden, sich vom Charakter der Melodie, von den in der Melodie offen oder verhüllt enthaltenen musikalischen Eigentümlichkeiten ableiten läßt, bzw. daß die Melodie und alles Hinzugefügte den Eindruck einer untrennbaren Einheit erwecken.” Siehe Szabolcsi, op. cit., S. 161.
[16] Bartók-Kodaly, Magyar Népdalolc. Editio Musica Budapest.
[17] A. B. Marx, Die Lehre von der musikalischen Composition I, Leipzig 21841, S. 341.
[18] A.a.O., S. 342.
Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bayreuth 1981, hrsg. von Christoph-Hellmut Mahling und Sigrid Wiesmann. Kassel–Basel-London: Bärenreiter, 1984, S. 440–444.

About Ilkka Oramo

Professor of Music Theory, emeritus
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